Das populistische Gespenst Lateinamerikas
Ein Fallbeispiel für die innenpolitische und wirtschaftliche Problematik in einem lateinamerikanischen Staat
Die Streik- und Protestaktionen der Opposition gehen in Venezuela bereits in die achte Woche, ohne dass Präsident Chávez auch nur die leiseste Neigung zum Nachgeben gezeigt hätte. Der Grad seiner Irritation lässt sich an seinen verbalen Ausfällen ablesen, dem Druck hat er bisher aber standgehalten. Der Streik hat das Land nicht völlig zu lähmen vermocht, auch wenn er die staatliche Erdölgesellschaft in die Knie gezwungen hat und die Einbussen in die Milliarden gehen. Kein Weg aus der Sackgasse ist in Sicht, in die sich Regierung und Opposition manövriert haben. Sollten sich die Gegner Chávez' mit dem konsultativen Referendum durchsetzen können, wird auch diese «Trophäe» nur symbolischen Charakter haben. Chávez wird man damit kaum zum Rücktritt zwingen können, denn zumindest formal hat er die besseren Argumente: Zweimal in einer Wahl legitimiert, besteht er auf einem demokratischen Vorgehen gemäss der vom Volk gutgeheissenen «bolivarischen» Verfassung.
Dass sich Chávez aus dem Fundus Bolívars nach Gutdünken bedient hat, ist allzu offensichtlich, als dass er sich legitimerweise auf den «Libertador» berufen könnte. Chávez als Erben der Revolution von Fidel Castro zu sehen oder gar als neue Galionsfigur einer lateinamerikanischen Linken, die demnächst wieder auferstehen könnte, wäre ebenfalls zu viel der Ehre. Ginge es tatsächlich um die Wiederbelebung des ideologischen Kampfes, hätte Brasiliens neuer Präsident, der in der Arbeiterklasse gut verankerte Lula da Silva, eher Anspruch auf diese Rolle. Der Revolutionär von Caracas stellt sich vielmehr in die Tradition einer langen Reihe von Populisten, die im 20. Jahrhundert den Kontinent bevölkerten. Er ist heute die schillerndste, aber nicht die einzige Personifizierung des «ewigen Gespensts Lateinamerikas», wie Uruguays früherer Präsident Sanguinetti das politische Phänomen des Populismus jüngst bezeichnet hat.
Unter welchen Bedingungen dieses Gespenst gedeiht und nach welchen Mechanismen es vorgeht, erklären noch heute die Geschichtskapitel über Perón in Argentinien, den Archetypen des lateinamerikanischen Populisten, über Cárdenas in Mexiko oder Haya de la Torre in Peru, den Gründer der Apra-Partei. Sie gehörten zu jener Generation, die gegen die herrschenden Oligarchien antrat - als Oligarchen brandmarkt auch Chávez jeweils seine Gegner - und in manchen Ländern die ersten Grundsteine für eine moderne Staatsform legte. Es waren charismatische Figuren, die oft direkt, meist ohne dazwischengeschaltete Strukturen und Organisationen, die Massen mobilisieren konnten. Gewerkschaftliche Verbindungen halfen mitunter, vor allem den unteren Gesellschaftsschichten oder den Indios die Illusion zu vermitteln, sie könnten nun am politischen Prozess teilnehmen.
Neben der peruanischen Apra ist Peróns Partei, der Partido Justicialista, von allen ad hoc gebildeten populistischen Gruppierungen die einzige, die zumindest nominell ihren Gründer überlebt hat. Auf ihn berufen sich manche zeitgenössische Peronisten, die heute noch aus der magischen Kraft jenes Namens politisches Kapital schlagen wollen. Die meisten modernen Populisten in anderen Ländern waren auf den Rückhalt einer starken Partei nicht angewiesen, eine solche wäre ihren autokratischen Neigungen eher hinderlich gewesen. Brasiliens einstiger Präsident Collor de Mello etwa hat im Verlauf seiner kurzen politischen Karriere mehrmals das Lager gewechselt und zwei Parteien auch selber gegründet. Und für Fujimori in Peru, der den direkten Draht zum Volk als «direkte Demokratie» missverstand, waren sie in Wahlzeiten praktische Vehikel, die er nach dem Urnengang jeweils in die Bedeutungslosigkeit entliess.
Als Antipolitiker, mitunter als Aussenseiter, gehen die neuen Populisten wie die alten auf Konfrontationskurs zum bestehenden politischen Establishment. Dieses an den Pranger zu stellen, ist ein leichtes Spiel. Quer durch den Kontinent finden sich wunde Punkte zuhauf, auf die der Finger gelegt werden kann: Korruption und Klientelwirtschaft, überbordende Bürokratien und schreiende Armut, enorme soziale Ungleichheiten und Entwicklungsgefälle, Arbeitslosigkeit und Marginalisierung. Es sind Missstände, die durch die lückenhaften «neoliberalen» Reformen des letzten Jahrzehnts nicht behoben worden sind und die Desillusionierung in der Bevölkerung verstärkt haben - der ideale Boden für einen charismatischen selbsternannten Messias, der in der Sprache des Volkes schnelle Lösungen und das Blaue vom Himmel herab verspricht.
Diskreditierte Parteien und zersplitterte politische Landschaften haben Populisten das Spiel oftmals erleichtert. Die Abneigung gegen korrupte alte Politikerkasten verhalf zum Beispiel in Ecuador dem unberechenbaren Bucaram für kurze Zeit in das höchste Amt. Ein ähnliches Phänomen hat in Bolivien um ein Haar den Bauernführer Morales auf den Präsidentensessel gehievt. Genauso wie Fujimori die Parteienlandschaft demontierte, hat Chávez in Venezuela mit dem wirkungsvollen Vorwurf der Korruption die abgehalfterten traditionellen Parteien ins Abseits gedrängt.
Der Angriff gilt in vielen Fällen aber nicht nur den Parteien, sondern auch der Legislative und der Justiz oder auch nichtstaatlichen Institutionen. Das verbrecherische Regime Fujimori/Montesinos etwa hat mit seiner populistischen Strategie den Staat ausgehöhlt und unter anderem auch die meisten Medien und zahlreiche Unternehmer in seinen Dienst genommen. Chávez geht anders vor und wird auch von anderen Motiven angetrieben - die Wirkung ist aber dieselbe, wenn er in allen Bereichen die Schlüsselstellen mit seinen Adlaten besetzt und sich von Gewerkschaften über die Medien bis hin zur Kirche mit allem anlegt, was neben ihm ein Quentchen an Autorität verkörpert.
Wie gefährlich populistische Strategien für krisen- und korruptionsanfällige lateinamerikanische Länder sein können, liegt auf der Hand. Das Beharren Chávez' auf einem formal demokratischen Vorgehen und der Verfassung ist schlichtweg heuchlerisch. Wo staatliche Institutionen, die Parlamente, vor allem die Justizsysteme, und Kontrollmechanismen auf allen Ebenen der Stärkung und der Konsolidierung bedürfen, reisst der neue Populismus das Steuerrad wieder herum. Er ist der Antagonist einer verantwortungsvollen Demokratie. Er schaltet nicht nur das pluralistische Prinzip aus, sondern auch jede politische Kontrolle. Die Opposition wiederum wird atomisiert; entsprechend schwer ist es, eine solche neu zu bilden. Davon wüsste Toledo, der gegen Fujimori antrat, ein Lied zu singen.
In Venezuela wird die Coordinadora Democrática, die auf dem Rücktritt des Präsidenten beharrt, auch nur durch das Kräftemessen mit ihm zusammengehalten. Ihr Schweigen über ein politisches Programm oder über die Namen von allfälligen Gegenkandidaten spricht Bände. Die Ansicht Gavirias, des zwischen den verhärteten Fronten vermittelnden Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten, und der neu gegründeten «Gruppe befreundeter Länder», wonach der Weg aus der Sackgasse in vorgezogenen Wahlen bestehe, wirkt deshalb reichlich kurzsichtig. Es wird keine valable Alternative zu Chávez geben, solange sich seine Gegner nicht zu einer kohärenten, konstruktiven Opposition zusammenraufen.
Chávez sollte sich allerdings nicht darauf verlassen, dass Venezuela ohne ihn nicht funktionieren kann. Selbst Argentiniens «descamisados» erhoben sich einst gegen ihren Helden Perón, und keinem der populistischen Gespenster des letzten Jahrzehnts war ein würdevoller Abgang beschieden, im Gegenteil. Da Chávez seinen Anti-Establishment-Kurs auch aussenpolitisch konsequent auslebt - Freundschaft mit Castro, Besuche bei Saddam und Ghadhafi, Sympathie für Kolumbiens Guerilla -, brandet ihm aus anderen Ländern auch nicht gerade Solidarität entgegen. Nicht von ungefähr distanziert sich Ecuadors neuer Präsident Gutirrez trotz allen Parallelen und eigenen populistischen Neigungen bei jeder Gelegenheit vom venezolanischen Präsidenten. Er scheint die richtige Lektion gelernt zu haben, Chávez dagegen einstweilen noch nicht.
aus : SN vom 18.1. 2003