Irakkrieg : Zusammenbruch von Saddams Herrschaft

und Einmarsch der US-Panzer in ein unvertreidigtes Bagdad am 9. 4. 2003

Die Macht des Tyrannen in Bagdad ist gebrochen, praktisch über Nacht.

Der Krieg - nach us-Diktion - zur Befreiung des Iraks, nicht seiner Eroberung, der mit einem Schlag gegen Saddam Hussein begonnen hatte, ist wohl noch nicht zu Ende. Doch das Ende ist in Sichtweite, die Zeichen des Zerfalls sind unübersehbar. Vom alliierten Oberkommando in Dauha hiess es lapidar, das Regime habe die Kontrolle über die Hauptstadt an amerikanische Streitkräfte, an jubilierende Bewohner und an plündernde Menschenmengen auf der Strasse verloren. Die Ordnung kollabiert, der Umsturz ist in Gang gekommen. Vollendet ist er nicht. Die Alliierten stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, mitten im wachsenden Chaos eine neue Verwaltung umsichtig aufzubauen.

Es scheint tatsächlich, dass die Wende im Krieg am 21. Tag seit Beginn der Kampfhandlungen erreicht wurde. Spürbar wurde am Mittwoch auch, dass die Furcht vor dem brutalen Repressionsapparat gewichen war, und neue, bisher unterdrückte Gefühle unter der Bevölkerung sich Bahn brachen. Die Überzeugung, dass es diesmal ernst gilt und die Amerikaner nicht wieder Aufständische im Stich lassen werden wie vor zwölf Jahren, breitete sich aus. Während das Bild der stürzenden Statue Saddams in einem Stadtteil am Ostufer des Tigris Betrachter in Bann schlug, gab es in andern Teilen der Metropole immer noch sporadische Feuergefechte, Zeichen, dass nicht aller Widerstand vorbei ist. Heckenschützen könnten das Leben in Bagdad weiterhin gefährden.

Doch die ausländische Journalisten berichten, ihre Aufpasser seien plötzlich verschwunden. Ebenso verflüchtigte sich die Polizei auf den Strassen. Der Informationsminister, der in den letzten Tagen ungeahnte Höhen der Wirklichkeitsverneinung erklommen hatte, liess sich nicht mehr sehen. Der Diktator selber scheint abgetaucht zu sein wie ein Talib in Kabul. Das Regime ist weggeschmolzen, ohne das vorausgesagte apokalyptische Untergangsfanal.

Der gestürzte Diktator hat die Entschlossenheit der Amerikaner und Briten erneut unterschätzt, seine eigene Widerstandskraft romantisch verklärt. Über seine Beweggründe wird man weiter rätseln können.Militärisch war der bewaffnete Widerstand der Iraker von allem Anfang an eher schlecht organisiert. Die Republikanischen Garden entpuppten sich nicht als der gefürchtete Gegner, von der schlecht gerüsteten regulären Armee - auch sie mehr ein Opfer des Regimes - war von vorneherein nicht viel mehr zu erwarten gewesen. Doch selbst der städtische Guerillakampf und die Störmanöver auf der langen Nachschubroute schienen nicht von einer wirkungsvollen Führung im Hintergrund koordiniert worden zu sein. Die Amerikaner haben sich mit einer geschickten Taktik allmählich in der Hauptstadt «eingenistet». Sie verzichteten auf den umfassenden Sturmangriff oder eine mittelalterliche Belagerung und Einschnürung. Die grosse Schlacht um Bagdad hat es nicht gegeben. In der Nacht auf den Mittwoch waren die Bombardierungen stark reduziert worden. Man vertraute statt dessen auf die Durchschlagskraft der Raids von Bodentruppen, die zusehends an Terrain gewinnen und dieses dann sichern konnten.

Wie die Gefühle der Bevölkerung den Amerikanern gegenüber wirklich sind, wird sich in den nächsten Tagen zeigen und dann vom amerikanischen Verhalten während der - wohl nur kurzen - Besetzungszeit abhängen. Die Amerikaner werden ohne Zweifel als Werkzeuge des Regimewechsels begrüsst, dennoch bleiben sie Fremde, und ihre Popularität hält sich wohl in Grenzen. Das heisst aber nicht, dass eine praktische Zusammenarbeit nicht möglich wäre. Sie verlangt von den westlichen Befreiern, wenn sie nicht als verhasste Besetzer erscheinen wollen, einiges an Fingerspitzengefühl und Rücksichtnahme. Ein irakischer Nationalismus, nicht Panarabismus oder fanatischer Islamismus, ist wohl die Kraft, die das geschundene Land über die nächsten Monate und Jahre bringen wird. An diesem Fall könnte sich zeigen, dass der vielbeschworene Zusammenprall der Zivilisationen nicht stattfindet, zumindest nicht unausweichlich ist.

NZZ v. 9.4.2003

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Veröffentlicht am
10.04.2003
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