Irakkrieg danach : Pressestimmen vom 22.April 2003

über die Gestaltung der Nachkriegsordnung

1.
"Neue Zürcher Zeitung" (NZZ):

"Der amerikanische Militärverwalter für den Irak, der frühere General Jay Garner, gab sich auf Anhieb als zupackender Macher des Wiederaufbaus; den Irak langfristig zu regieren, versicherte er, gehöre nicht zu seinen Aufgaben. Auf der Straße demonstrierten erneut Tausende gegen die amerikanische Militärpräsenz. Garner hat einige Defizite aufzuarbeiten. Abgesehen von seinem späten Antritt ist er in der arabischen Welt als Unterzeichner einer früheren pro-israelischen Erklärung bekannt, welche die Unterdrückung der Palästinenser-Intifada als 'schonend und human' lobte. Hinter seinen kunstvoll entpolitisierten Bezeugungen guten Willens vermuten viele Iraker verdeckte Machtspiele der Amerikaner. Jedenfalls verstanden sie die Andeutungen aus dem Pentagon sehr gut, dass die USA sich im Irak auf lange Frist vier große Militärstützpunkte vorbehalten wollen."

2.

"tageszeitung" (taz) (Berlin):

"Die USA werden mit ihrer hegemonialen Politik im Irak scheitern, weil ihr Zivilisationsmodell dort als Bedrohung der kulturellen Identität wahrgenommen wird. Hegemonie funktioniert nur, wenn sie sich als gepanzerter Konsens darstellt. Wie aber ist im besetzten Irak Konsens erreichbar? Eben nicht dadurch, dass die Besatzungsmacht sich als Träger einer demokratischen Neuordnung geriert. Ihre Doppelrolle als imperiale Ordnungsmacht mit starken ökonomischen Eigeninteressen und als demokratischer Glücksbringer ist nicht glaubwürdig. (...) Im Unterschied zum Kriegsende 1945, als es die UNO und das durch sie verkörperte Weltrechtssystem nicht gab, sind heute die Vereinten Nationen nicht nur die Quelle eines legalen Prozesses des 'nation building', sie sind auch die einzig legitime Instanz, denn sie verbürgen kraft ihres Auftrags die Verteidigung von Souveränität und Selbstregierung. Für die Bevölkerung des Irak gilt das Besatzungsregime als Angriff auf die kulturell-nationale Identität. Sie wird eine internationale Übergangsverwaltung nur akzeptieren, wenn diese sich rechtlich legitimiert. Das kann nur die UNO leisten - als Protektor, nicht als Hegemon."

3.

"Frankfurter Rundschau":

"Da die US-Administration unter allen Umständen zur militärischen Beseitigung des Regimes in Bagdad entschlossen war, worüber sie nie einen Zweifel hat aufkommen lassen, hatte der UN-Sicherheitsrat ohnehin nur die Chance der Verzögerung, aber wohl nie der Verhinderung dieses einseitigen Krieges. Nach dieser Niederlage wird umso deutlicher, dass der Sicherheitsrat nur deswegen von den USA so lange als Forum und Bühne des Ringens um eine ermächtigende Resolution benutzt bzw. geduldet wurde, um ihre relative Isolation in der Kriegsfrage zu durchbrechen und die Legitimation für ihr einseitiges Vorgehen zu erweitern. (. . .) Hauptziel und -funktion des UN-Sicherheitsrates ist die Sicherung das Friedens, was ihm trotz Veto nicht gelang. In der Interpretation der US-Administration allerdings versäumte er seine Aufgabe gerade dadurch, dass er den Krieg nicht legitimierte (...) Nun stellt sich definitiv die Frage, ob damit das endgültige Urteil über die Vereinten Nationen und ihre Hauptinstitutionen gesprochen worden ist und sie das gleiche Schicksal ereilen wird wie seinerzeit den Völkerbund - allerdings in der pikanten Variante, dass (in der Zwischenkriegszeit) die faschistischen Achsenmächte Italien, Japan und Deutschland Schritt für Schritt das kollektive Sicherheitssystem bis zum Kollaps unterminiert hatten, nun aber die einstigen antifaschistischen Alliierten USA und Großbritannien dafür die Verantwortung tragen."

4.

"Abendzeitung" (München):

"Die USA wollen jetzt rasch ihren Sieg im Irak ausrufen - und womöglich auf Jahrzehnte als Militärmacht im Land stationiert bleiben. US-Verwalter Garner sagte, die USA wollten den Irakern keine Regierungsform 'diktieren'. Insgeheim allerdings haben die USA langfristige Pläne im Irak, wie die 'New York Times' berichtet. Man wolle eine für die Nachbarländer 'spürbare' US-Truppe im Irak - spürbar vor allem für Syrien und den Iran: Denn beide Staaten wären dann von US-Verbündeten umstellt - Syrien von Israel und dem Irak; der Iran vom Irak, Afghanistan und Pakistan. Ein Nebeneffekt: Die heutigen US-Basen in den irakischen Nachbarländern Saudiarabien und Türkei würden dann unwichtiger, und damit die Abhängigkeit der USA von diesen Ländern."

5.

"FTD - Financial Times Deutschland":

"Über die Basen, die bestehende Stützpunkte in den Golfstaaten ergänzen sollen, könnten die USA ihren Druck auf andere Staaten der Region verstärken. Die Vorposten würden es der US-Regierung erleichtern, in Krisenfällen schnell militärisch Druck auf die Nachbarländer Iran oder Syrien auszuüben. Nicht nur militärisch, sondern auch politisch würden die Basen damit die Eingriffsmöglichkeiten der USA in der Region vergrößern. Eine grundsätzliche Änderung der strategischen Lage würden die neuen US-Basen im Irak allerdings nicht bedeuten: Das Pentagon hat mehrere moderne, gut ausgebaute Luftwaffenbasen in den Golfstaaten, von denen aus schon jetzt Militäraktionen gegen den Iran und Syrien möglich wären. Zudem hat der Irak-Krieg gezeigt, dass Flugzeugträger im östlichen Mittelmeer und im Persischen Golf eine effektive Alternative zu Landbasen sein können."

6.

"Berliner Zeitung":

"Die Verantwortung dafür, dass der Irak wieder funktioniert und seine Bewohner ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen können, tragen nach der Haager Landkriegsordnung die Besatzungsmächte. Die Bilanz ihrer ersten Tage fällt miserabel aus. (...) Doch niemandem, auch nicht den Vereinten Nationen und ihren zahlreichen Hilfsorganisationen steht es zu, die Sieger aus ihrer Pflicht zu entlassen."

7.

"Liberation" (Paris):

"Gewiss braucht der Irak eine Form von Regierung, die über die Zusammensetzung der Religionsinstanzen wacht. Das ist die eigentliche Herausforderung für die Amerikaner. Man darf sich fragen, ob der General im Ruhestand, den die Amerikaner als Prokonsul entsandt haben, oder der Bankier im Exil, den sie als offiziellen Vertreter ausgewählt haben, die Richtigen sind. Erforderlich sind Führer, die eine Demokratie erfinden, um die in Bewegung geratene Bevölkerung zu vertreten und zu regieren."

8.

"La Repubblica" (Rom):

"Das Weiße Haus versichert zwar, dass der Irak kein amerikanisches Protektorat sein wird. Aber wie mehr oder minder eng die Beziehungen zwischen Bagdad und Washington künftig auch sein werden, so erwartet das Pentagon von der künftigen Führung doch auf längere Sicht vier Militärstützpunkte im Land. Das wäre ein Brückenkopf, der die gesamte strategische Situation im Mittleren Osten radikal verändern würde. Betroffen davon wären auch die politischen Beziehungen der Vereinigten Staaten mit jedem einzelnen Land in der Region, angefangen mit Saudiarabien."

9.

"The Independent" (London):

"Vom Anfang bis zum Ende des Krieges war dasjenige, was Präsident (George W.) Bush zu sagen hatte von ergreifender Einfachheit, am Rande der Naivität. Seine Bemerkungen während des Osterwochenendes waren keine Ausnahme. Die Befreiung des Irak, sagte er, würde die Welt zu einem friedlicheren Ort machen. Ohne Sadam Hussein an der Macht werde das Leben für die irakische Bevölkerung viel einfacher. (...) Bis jetzt ist noch nichts gefestigt und es kann gut noch ein Jahr dauern, bis eine irakische Regierung gebildet ist. In der Zwischenzeit kann nichts ausgeschlossen werden - die Möglichkeit eingeschlossen, dass aus dieser von außen auferlegten 'Revolution' eine Regierung entsteht, die eher wie die der Nachbarn aussieht als das von Bush vorausgesagte regionale 'Fanal an Demokratie'".

10.

"Der Tagesspiegel" (Berlin): Aufforderung zum echten Imperialismus

"Viele Linke in den USA haben ihr Verhältnis zum Imperialismus geändert, seit ihr Land die 'Sole Super Power' ist. Das hat auch seine Berechtigung. Denn nicht nur im Wahn der Amerikaner, sondern tatsächlich geschieht gerade etwas Einmaliges in der Menschheitsgeschichte: die Welt ist im Begriff, ein globales Gewaltmonopol herauszubilden. Dieses Faktum kann man nicht ignorieren. Es bietet eine Chance für die lang ersehnte Welteinigung in Frieden, und es ist richtig und nötig, dass die Amerikaner ihre Mission erkennen: den Aufbau der Pax Americana. Dem sollte man nicht den Versuch entgegenstellen, dass sich die Welt - oder Teile der Welt - gegen die USA zusammenschließen. Was wir Deutschen - leider zu spät - denn endlich doch praktiziert haben, müssen wir dem Rest der Welt empfehlen: die Kapitulation. Der Druck, den die kritische öffentliche Meinung ausüben kann, muss in die Gegenrichtung gehen: Sie muss die USA - ironischer Weise - zu einem echten Imperialismus auffordern. Davon sind die Amerikaner nämlich noch weit entfernt. Keineswegs sehen sie ihre Aufgabe darin, dem Allgemeinwohl der unterworfenen Völkerschaften zu dienen, wie kluge Kolonialherren es immer getan haben."

11.

"Handelsblatt" (Düsseldorf):

"Die USA haben den NATO-Staaten vor Augen geführt, wie weit die Schere der militärischen Fähigkeiten zwischen ihnen und den übrigen Mitgliedern auseinander klafft. Wenn vor allem die Europäer künftig ein Wort mitreden wollen, sollten sie daran schleunigst etwas ändern - vor allem bei der Ausrüstung ihrer Armeen. Einen Krieg a la Rumsfeld werden sie aber nie führen können. Die relativ niedrigen Verluste auf Seiten der Angreifer verbergen, dass bei den Amerikanern nach dem 11. September 2001 ein taktisches Umdenken eingesetzt hat: Galt bisher die Devise, Verluste auf jeden Fall zu vermeiden, so waren die Planer des Irak-Kriegs offenbar bereit, sie hinzunehmen. Dem wird die Mehrheit der europäischen NATO-Staaten kaum folgen können, erst recht nicht in einem 'Präventivkrieg'".

aus Der Standard vom 22.4.2003 (APA/dpa/AFP)

 

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Veröffentlicht am
22.04.2003
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