Läuten dem Staat Nigeria die Totenglocken?

Eine Fatwa gegen eine Journalistin rührt am Selbstverständnis des Staates. Die Nation ist tief gespalten zwischen dem moslemischen Norden und dem christlichen Süden. November 2002

Eine Fatwa gegen eine Journalistin rührt am Selbstverständnis des Staates.
Die Nation ist tief gespalten zwischen dem moslemischen Norden und dem christlichen Süden.

ABUJA. Der Rauch hatte sich verzogen, die Toten waren beigesetzt, Geschäfte, Banken und Schulen wieder geöffnet, als die Flammen des Hasses erneut aufloderten. Eine Fatwa, ein islamisches Todesurteil, goß Feuer in die glimmenden Glutnester, die die vorwöchigen schweren religiösen Unruhen im Norden Nigerias hinterlassen hatten.

Mamuda Shinkafi, Vize-Gouverneur des Bundesstaats Zamfara, sprach den Bannspruch: "Wie bei Salman Rushdie kann auch das Blut von Isioma Daniel vergossen werden." Sie habe den Propheten beleidigt, und darum sei es religiöse Pflicht, sie zu töten.

Anläßlich der moslemischen Proteste gegen den "Miß-World"-Kontest hatte die junge Modejournalistin mit ihrer Kolumne in der Zeitung "This Day" den Funken entfacht, der zur Eruption von Haß und Gewalt führte: "Was würde Mohammed davon halten?", fragte sie. "Er würde sich wahrscheinlich eine der Frauen aussuchen."

Über Handy und SMS wurde die "blasphemische" Botschaft sogleich weitertransportiert. Marodierend zogen fanatische Moslem-Horden durch Kaduna, zündeten Kirchen an und lieferten sich wüste Straßenschlachten mit Christen. 250 Menschen fielen den Unruhen zum Opfer.

Seit der sukzessiven Einführung der Scharia, des islamischen Rechts, in den zwölf Nord-Provinzen gleicht Nigeria einem brodelnden Vulkan, der von Zeit zu Zeit ausbricht und das Land in Asche legt. Zwischen dem moslemischen Norden und dem christlich-animistischen Süden zieht sich auch eine ethnische Trennlinie: Die christlichen Yoruba im Süden, die auf den Ölressourcen sitzen, fühlten sich immer verfolgt von den moslemisch dominierten Stämmen der Haussa und Fulani, aus denen sich die politische und militärische Elite rekrutierte. Diese Zentrifugalkräfte drohen das Land nun zu zerreißen.

Kaduna, die stolze Handelsstadt im Norden Nigerias, fokussiert die Probleme des bevölkerungsreichsten Staats Afrikas: grassierende Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption, Ressentiments gegen den ölreichen Süden, Zusammenprall der Religionen. Seit Kaduna zum Schauplatz religiös motivierter Gewalttätigkeiten wurde, leben Christen und Moslems in getrennten Sektionen.

Noch schärfer wird die Scharia freilich in Zamfara gehandhabt: In Schulen und Taxis sind die Geschlechter streng separiert. "Es gibt eine Mauer zwischen Christen und Moslems", sagt ein Nigerianer.

Die Zeichen stehen weiter auf Sturm, obwohl sich "This Day" mehrfach für den inkriminierten Artikel entschuldigt und Präsident Olusegun Obasanjo den Journalismus als "unverantwortlich" gebrandmarkt hat. Die Regierung hat die Fatwa gegen die Journalistin zwar für "null und nichtig" erklärt. Islamische Autoritäten haben den Spruch kritisiert, doch der internationale Bannstrahl ist Nigeria bereits sicher.

Nach diversen Todesurteilen durch Steinigung ist auch Obasanjo, der sich davon stets distanziert hatte, unter massive Kritik geraten. Dem 67jährigen einstigen Militärdiktator, der sich inzwischen zu einem afrikanischen Musterdemokraten und Krisenvermittler aufgeschwungen hat, wird vorgeworfen, der vielfältigen Probleme nicht Herr zu werden. Weder gelang es ihm, die Wirtschaft des sechstgrößten Erdölexporteurs in Gang zu bringen, noch die versprochene Privatisierung der staatlichen Unternehmen einzuleiten.

Mittlerweile sind die Chancen Obasanjos, eines Yoruba, auf eine Wiederwahl im kommenden Frühjahr drastisch gesunken. Mehrmals konnte er ein Amtsenthebungsverfahren durch die Abgeordneten gerade noch abwenden. Aber die Moslems favorisieren bereits einen anderen ehemaligen Militärherrscher - Ibrahim Babangida, einen der Ihren.

 

Eingedenk des Schicksals Salman Rushdies ist Isimoa Daniel längst untergetaucht. Sie hat sicherheitshalber falsche Fährten gelegt. Einerseits heißt es, sie halte sich noch im Land auf, andererseits wird sie im Westen vermutet - in Großbritannien oder den USA.

Qu.: Die Presse vom 28.11.2002

 

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Veröffentlicht am
28.11.2002
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