Bedrohungsängste spielen in der westlichen Zivilisation eine prägende Rolle

- sagt der Wissenschaftshistoriker Philipp Sarasin. Und die Infektionskrankeit SARS löst auch wegen alter Trugbilder weltweit Ängste aus.

Die Infektionskrankheit Sars löst weltweit Angst und Schrecken aus, obwohl die Zahl der Opfer im Vergleich mit jener durch andere Krankheiten noch gering ist. Die Angst vor der Bedrohung scheint heute oft die größere Gefahr zu sein als die Bedrohung selbst. Bilder wie jene der Sars-Schutzmasken würden zur globalen Metapher für ein Bedrohungsszenario, analysiert der schweizer Autor und Wissenschaftshistoriker Philipp Sarasin, der an der Uni Zürich zurzeit eine Lehrveranstaltung zum Thema "9/11. Terror, Medien und Deutungsmuster in historischer Perspektive" anbietet.

FRAGE des STANDARD: An Grippe sterben weltweit bis zu 500.000 Menschen im Jahr, an Sars im halben Jahr seit Entdeckung hundert. Warum macht Sars dennoch häufiger Schlagzeilen?

P.Sarasin: Solche Vergleiche sind immer schwierig, sei es auch in Bezug auf Rauchen, Aids oder den Golfkrieg. Sie müssten immer zur Frage führen: Wieso hebt man diese oder jene Tatsache, zum Beispiel den Kampf um Bagdad, so stark heraus, während in Afrika tagtäglich viele Kinder sterben? Bei Sars wie bei anderen Phänomenen spielt eine Ökonomie der Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle. Hinzu kommt: Menschen leben mit Risiken wie Autounfällen oder Tabakkonsum und erschrecken, wenn etwas Neues kommt wie Aids oder Sars, dessen Virus sich schnell und bedrohlich ausbreitet.

FRAGE des STANDARD: Sars löst Ängste aus. Für Sie nachvollziehbar?

P. Sarasin: Es ist historisch durchaus erklärbar. Ängste vor Infektionskrankheiten sind ganz alt. Eine der sieben Plagen aus der Bibel in Ägypten ist eine Infektionskrankheit. Die Angst vor der Pest, dem Schwarzen Tod, war im Mittelalter sehr verbreitet. Oder denken Sie an die Cholera im 19. Jahrhundert: Da starben insgesamt auch weniger Leute als an der Tuberkulose, doch das plötzliche, unwürdige Sterben mitten in der Stadt schockierte die Leute.

STANDARD: Sie haben nach den Anthrax-Anschlägen in den USA gesagt, dass nicht Milzbrand, sondern die Angst davor bedrohlich sei. Sehen Sie das bei Sars heute ähnlich?

Sarasin: Nicht unbedingt. Meine Aussage zu Anthrax scheint sich mehr und mehr zu bestätigen. Inzwischen weiß man mit großer Wahrscheinlichkeit, dass ein Einzeltäter aus dem amerikanischen Biowaffenprogramm hinter den Attentaten steht. Dass der Täter mit den Anthrax-Briefen Umschläge mit harmlosem weißem Pulver verschickte, deutet auf eine Kampagne hin. Vermutet wird, dass er dies tat, um das "US-Bioshield Program" zur Bekämpfung solcher Bedrohungen anzuregen. Eine Hysterie brach aus, die in keinem Verhältnis zu den tragischen Fällen stand. Die Anthrax-Briefe wurden mit Al-Kaida in Verbindung gebracht, obwohl nie auch nur ansatzweise ein Beweis vorlag.

STANDARD: Wofür stand oder steht denn Anthrax?

Sarasin: Deutlich erkennen lässt sich eine Kampagne, bei der über das Stichwort Massenvernichtungswaffen der Irakkrieg an die Anthrax-Anschläge rückgekoppelt wird. Gemäß Umfragen glaubt die Mehrheit der US-Amerikaner, dass Saddam Hussein für den 11. September 2001 verantwortlich war. Für die angebliche Weitergabe Saddams von B-Waffen an Terroristen gibt es aber keine Anhaltspunkte.

STANDARD: Und wie verhält es sich derzeit mit Sars?

Sarasin: Sars weist darauf hin, dass die wirkliche Bedrohung Krankheiten und Epidemien sind und nicht Biowaffen, wie Barbara Hatcher Rosenberg von der American Federation of Scientists bereits vor einem Jahr zu Recht anmerkte. Das "Bioshield Program" der US-Regierung zielt darauf, die Operationsfähigkeit der eigenen Streitkräfte und die Regierungsfähigkeit der Administration unter ABC-Bedingungen sicherzustellen. Eine Bevölkerung lässt sich nicht vollständig gegen Bio-, Atom- oder Chemiewaffen schützen. Sars deutet einerseits darauf hin, in welchem Bereich die Bedrohung liegt, und verdeutlicht andererseits, dass die Hysterie wegen des so genannten Bioterrorismus inszeniert war.

STANDARD: Politiker argumentieren bei Sars, Anthrax und gegen Saddam Hussein mit ähnlichem Vokabular ...

Sarasin: ... Ja. Dahinter verbergen sich uralte Ideen. Seit dem Mittelalter gibt es Vorstellungen, der Orient, gemeint ist der gesamte asiatische Kontinent, sei ein Seuchenherd. Dieser dichte Vorstellungskomplex eines rückständigen Ostens als Ort von Tod und Krankheiten geht einher mit der Idee eines islamischen Expansions- und Eroberungswillens. Es gab bereits im Mittelalter die Vorstellung, der Sultan von Babylon, 80 Kilometer von Bagdad entfernt, habe den teuflischen Plan, Christen zu vernichten und hätte dafür die Juden gekauft, damit sie Brunnen vergiften. So ein Muster von Vorstellungen von Seuchen und Bedrohungen als asiatisch-orientalische Hydra, die zu bekämpfen sei, spielte eine Rolle. Die Cholera nannte man beispielsweise den "indischen Todesengel". Wie sehr dies im Zusammenhang mit dem Irakkrieg wieder geschieht, müsste man im Detail anschauen. Auf jeden Fall spielen alte Vorstellungen des Westens eine wichtige Rolle.

STANDARD: Bilder spielen in der Berichterstattung über Krieg und Krankheiten eine wichtige Rolle. Ins Auge stechen dabei jene von Atemschutzgeräten. Wie deuten Sie das?

Sarasin: Der Philosoph Peter Sloterdijk sagte, dass es wirklicher Terror sei, wenn man nicht mehr atmen könne. Ich halte dies für etwas überzogen. Atmen ist aber elementar für unser Leben. Deshalb sind Bilder von Menschen, die Atemmasken tragen - Gasmasken im Irak wie Schutzmasken gegen Sars - Inbegriff von Furcht in der Moderne. Auch nach dem 11. September wurden etwa in der Schweiz beim Öffnen von Stimmkuverts aus Angst vor Anthrax Schutzhandschuhe und Schutzmasken getragen, was völlig übertrieben war. Allerdings - die Bilder evozieren: Der wahre Feind ist unsichtbar, denn er ist eine Mikrobe.

STANDARD: Wie könnte die Menschheit gelassener mit solchen Bedrohungen umgehen?

Sarasin: Meine Methode ist es, solche Bilder und Diskurse zu dekonstruieren, zu zeigen, dass es Bilder sind, die nach einer bestimmten Logik funktionieren. Wir können dann erkennen, das die Phantasmen eine Geschichte haben. Keinesfalls will ich sagen, dass Sars keine Bedrohung sei. Schutzmasken an Flugpassagiere aus China zu verteilen ist sicherlich adäquat, solange man nicht weiß, woher genau die Krankheit kommt. Das Problem der Bilder ist, dass sie etwas Metaphorisches haben: Sie verdichten einen ganzen Vorstellungskomplex und werden zu einem Bild für ein ganzes Bedrohungsszenario. Das funktioniert auch nur, wenn es einen realen Kern gibt. Beispielsweise hat es irakisches Anthrax gegeben, das sich mittlerweile aber wohl längst zersetzt hat. Bilder und Vorstellungen, die sich an die Medienberichte anknüpfen, sind demgegenüber größer und gefährlicher.

aus :

DER STANDARD,11.04.2003

 

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Deutsch
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Veröffentlicht am
11.04.2003
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