Europa , die "Alte Welt" wird immer älter

Hängen Macht und Einfluß eines Landes von der Zahl seiner Einwohner ab? Der Erweiterungsprozeß der EU wird dieser kaum mehr Macht im weltpolitischen Kräftespiel bringen.

Hängen Macht und Einfluß eines Landes von der Zahl seiner Einwohner ab?
Der Erweiterungsprozeß der EU wird dieser kaum mehr Macht im weltpolitischen Kräftespiel bringen.

VON RAINER MÜNZ

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Mächtige Länder unterscheiden sich von weniger bedeutenden durch ihre militärischen Möglichkeiten oder ihre wirtschaftliche Leistung. Viele Einwohner verleihen dagegen noch keinen Großmachtstatus. Dies zeigt das Beispiel Indiens. Dort gilt die große und weiter wachsende Bevölkerung als Belastung. Und niemand hat Indien einen ständigen Sitz im UN-Weltsicherheitsrat angeboten, nur weil es in einem Vierteljahrhundert China überholen und das bevölkerungsreichste Land der Erde sein wird.

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Trotzdem sind Größe und Struktur der jeweiligen Bevölkerung von Einfluß. Spanische Seefahrer entdeckten Amerika, portugiesische den Seeweg nach Indien. Gestützt auf den Vertrag von Tordesillas (1494) teilte Papst Leo X. den Globus 1514 unter diesen zwei Nationen auf. Aber beide hatten viel zu wenige Einwohner, um die gewonnenen Überseegebiete zu besiedeln. Obwohl im Reich Karls V. und Philips II. die Sonne nie unterging, wurden Spanien und Portugal nie zu Großmächten. England und Frankreich machten das Rennen.

 

Auf dem europäischen Kontinent behauptete Frankreich bis ins 19. Jahrhundert fast unangefochten seine Vormachtstellung. Es war die "grande nation": auch deshalb, weil Frankreich unter den Ländern Europas damals mit Abstand die meisten Einwohner hatte. Nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht unter Napoleon standen dem Land damit die meisten Soldaten zur Verfügung. Allerdings gab es in Frankreich keine zur Auswanderung bereite "Überschußbevölkerung". Im Gegensatz zu Großbritannien mußte Frankreich von Quebec bis Louisiana daher zwangsweise Kolonisten ansiedeln.

Die Briten waren erfolgreicher. In England, Schottland und Irland gab es viele, die aus wirtschaftlichen oder religiösen Gründen auswandern wollten. Mit ihnen ließen sich die von England erworbenen Kolonien der Neuen Welt tatsächlich in Besitz nehmen. Und mit ihnen ließen sich die Franzosen in Nordamerika während des Siebenjährigen Krieges (1756-63) besiegen.


Frankreich blieben - bis heute - zwei winzige Inseln im Atlantik vor der Mündung des St.-Lorenz-Stroms und einige weitere in der Karibik. Die Franzosen eroberten sich im 19. Jahrhundert ein zweites "Kolonialreich" in Afrika. Regelrecht kolonisiert wurde jedoch nur der Norden Algeriens. Aber auch da waren viele "französische" Siedler eigentlich Italiener, Malteser oder sephardische Juden.


 

Die Kehrseite ihrer demographisch erfolgreichen Kolonialisierung bekamen die Briten schon kurz nach Ende des Siebenjährigen Krieges zu spüren. Die Mehrzahl der religiös überzeugten, wirtschaftlich erfolgreichen und politisch selbstbewußten britischen Siedler in Nordamerika kündigte dem Mutterland ihre Loyalität auf und erklärte 1776 die Unabhängigkeit der USA.


Welche Leistung dies darstellte, läßt sich nur ermessen, wenn man folgendes bedenkt: Erst im 20. Jahrhundert gelang es den Bewohnern weiterer britischer Kolonien, gegen den Willen des Mutterlandes die Unabhängigkeit zu erzwingen.

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Europas Aufstieg zu einem Kontinent mit mehreren Großmächten hat zweifellos damit zu tun, daß die industrielle Revolution von hier ihren Ausgang nahm. Dadurch verbesserten sich in diesem Teil der Welt auch die Lebensverhältnisse. Die Sterblichkeit sank, und gerade dies führte hier zu einem beträchtlichen Bevölkerungswachstum.


Ob dies den betroffenen Ländern und Gesellschaften mehr Vorteile brachte oder mehr Probleme bescherte, war schon unter den Zeitgenossen umstritten. Denn kurzfristig bewirkte die steigende Einwohnerzahl ja - ähnlich wie heute in Teilen der Dritten Welt - Versorgungsengpässe und strukturelle Arbeitslosigkeit. Mittelfristig führte sie in Europa jedoch zu größeren Binnenmärkten und höherer Produktivität.

Vor allem die zunehmende Bevölkerungsdichte erleichterte im 19. und 20. Jahrhundert den Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur. Entscheidend aber war: Die jungen Industriestaaten gewannen zusätzliche Arbeitskräfte, Soldaten und Steuerzahler. Erst dadurch bedeutete das Mehr an Menschen auch einen Zuwachs an Macht.

Die massive Zuwanderung ambitionierter Menschen schuf die Grundlage für den späteren Aufstieg zur Großmacht. Als solche konnten die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sogar dem ehemaligen Mutterland Großbritannien den Rang ablaufen.


Ohne diese Öffnung der USA für Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft hätte das Land heute vielleicht nur die Bedeutung Kanadas oder Australiens, die beide britisch blieben.

In Europa selbst spielte Großbritannien allerdings nie eine dominante Rolle. Hier hießen die großen Rivalen Frankreich und Deutschland. Zweifellos gab es für diese Rivalität auch eine demographische Ursache. Bismarcks Deutschland hatte seit der Reichsgründung 1871 mehr Einwohner als die "grande nation".


Darin sah man in Frankreich den Hauptgrund für die Niederlagen von 1871 und 1940. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Diktum des französischen Premierministers Clemenceau nach der Verkleinerung Deutschlands durch die Friedensverträge von Versailles: "Immer noch 20 Millionen Deutsche zu viel!"


Schon deshalb verbot man den durchwegs anschlußwilligen Österreichern 1920 - ohne Rücksicht auf das von US-Präsident Wilson 1918 als Kriegsziel proklamierte "Selbstbestimmungsrecht der Völker" - den Beitritt zur Weimarer Republik. Und ohne die Einwohner der Alpenrepublik auch nur zu fragen, stellten die alliierten Sieger des Zweiten Weltkriegs Österreich 1945 sofort wieder her.


In Deutschland aber hielten sie sich postum an Clemenceau. Das Land wurde geteilt. Und jenes (West)Deutschland, das vor genau 50 Jahren durch den Elyse-Vertrag historisch erstmals zum Partner Frankreichs wurde, hatte nun tatsächlich um über 20 Millionen Einwohner weniger als die Weimarer Republik und Hitlers Deutschland in seinen Grenzen von 1937. Ganz in dieser Tradition rührte auch Frankreichs größter Vorbehalt gegen die deutsche Wiedervereinigung - nicht die territoriale Vergrößerung war es, sondern der Umstand, daß damit 16 Millionen DDR-Bürger hinzukamen.

 


Heute leben 82 Millionen Menschen in Deutschland. Es ist damit in der EU mit Abstand das größte Land. Daß Deutschland damit in Europa automatisch mehr Einfluß hat, läßt sich allerdings nicht behaupten.

Dies gilt im Weltmaßstab auch für die EU mit ihren 377 Millionen Einwohnern. Bis Ende des Jahrzehnts kommen voraussichtlich über 100 Millionen Ostmitteleuropäer als neue EU-Bürger hinzu, im Falle eines späteren Beitritts der Türkei noch weitere 70 Millionen. Kritiker dieses Erweiterungsprozesses prognostizieren der EU dadurch keineswegs mehr, sondern weniger Macht in der Welt und die Rückentwicklung in eine Freihandelszone. Vor allem Befürworter einer EU-Mitgliedschaft der Türkei werden verdächtigt, damit faktisch die Umwandlung vom Staatenbund EU in einen (gesamt)europäischen Bundesstaat zu torpedieren.

 


Der Beitrittswunsch der Türkei hat heiße Diskussion über die politischen, kulturellen und geographischen Grenzen Europas entfacht. Mindestens ebenso wichtig wäre es aber, über die Zukunft eines Europas mit rasch alternder und schrumpfender Bevölkerung nachzudenken.

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Österreich allein wird um die Mitte des 21. Jahrhunderts voraussichtlich um eine halbe Million Einwohner weniger haben als heute. Von den verbleibenden Bürgern wird mehr als ein Drittel über 60 Jahre alt sein. Alle heutigen EU-Staaten zusammen werden bis 2050 rund 35 bis 40 Millionen Einwohner verlieren.

Und die EU-Osterweiterung beschleunigt diese Schrumpfung noch. Denn falls die Türkei draußen bleiben muß, bekommt die EU neue Mitglieder, deren Bevölkerungen noch rascher schrumpfen als in Westeuropa. Schon aus Sicht der Entdecker der frühen Neuzeit war Europa die "Alte Welt". In den nächsten Jahrzehnten werden Europa - und Japan - auch in wirtschaftlicher und demographischer Hinsicht zu einer solchen "alten Welt". Zumindest für ambitionierte Migranten werden wir dadurch weniger attraktiv. Wer wandert schon aus - mit dem Ziel, den Einheimischen die Pension zu sichern?

 

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Die USA sind heute nicht nur die einzige verbliebene Supermacht, sondern auch der einzige Industriestaat mit dynamisch wachsender Bevölkerung. Schon vor dem Ersten Weltkrieg lebten dort über 100 Millionen Menschen. Im Jahr 2000 registrierte die Volkszählung bereits 284 Millionen Einwohner. In 50 Jahren werden es rund 400 Millionen sein; vielleicht auch mehr: Denn allein während der neunziger Jahre wuchs die US-Bevölkerung zur Verblüffung vieler Politiker und Experten um mehr als 30 Millionen.


Zwei Drittel dieses Wachstums verdanken sich dem Geburtenüberschuß, nur ein Drittel der legalen wie illegalen Zuwanderung. Allein dieser kontinuierliche Zuwachs an Konsumenten und Arbeitskräften wird in den USA auf Dauer für ein höheres Wirtschaftswachstum sorgen.


 

Da heute mehr als acht von zehn Immigranten aus Asien oder Lateinamerika stammen, verschieben sich innerhalb der USA die ethno-demographischen und politischen Gewichte: weg von der Ostküste mit ihren Bindungen an Europa, in den Südwesten des Landes und an die Westküste, wo "Hispanics" und Asiaten als rasch wachsende ethische Minderheiten bald die Mehrheit bilden.


Durch diese Zuwanderer und die von ihnen später im Land geborenen Kinder bleiben die USA - im Gegensatz zu Europa und Japan - eine sich ständig wieder verjüngende Gesellschaft. Dabei wird dieser Teil der Neuen Welt demographisch wie kulturell zu einem Mosaik, in dem sich der Rest der Welt "spiegelt". Wir in Europa würden eine solche Entwicklung für das Ende unserer abendländischen Kultur halten. Die Amerikaner sehen Zuwanderer hingegen als Bereicherung ihrer eigenen Zivilisation und als Bestätigung ihrer Stellung in der Welt.

 

 

Rainer Münz ist Professor für Bevölkerungswissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität.

 

Aus : Die Presse vom

10.01.2003

 

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Deutsch
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Veröffentlicht am
10.01.2003
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