Nach Arafats Tod im November 2004 :

Ein Kommentar "die Palästinensischen Massen..."

Zu den Bildern der Massenemotion bei Arafats Begräbnis in Ramallah sagte die palästinensische Politikerin Hanan Ashrawi in CNN , das sei die "Quintessenz Arafats" gewesen : Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende, die den Sarg auf dem Weg zur letzten Ruhestätte nicht durchlassen wollen, Flaggen, Schüsse in die Luft, Rufe von "Arafat, Arafat!" und "Allahu akbar!" (Gott ist groß), ungeheure Erregung – sodass man fürchten müsste, der Leichnam werde aus dem Sarg fallen wie beim Begräbnis des Ajatollah Khomeini im Iran. Quintessenz Arafats – eine emotionale, ja hysterische Massenszene.

 

 

Der Anblick der palästinensischen Massen mag die Welt und die wichtigsten Entscheidungsträger daran erinnert haben, dass es ein palästinensisches Volk gibt, dass es unter harter Besatzung steht und in Armut und Bedrängnis lebt; dass es gefährlich ist, sie noch sehr viel länger in diesem Zustand verharren zu lassen.

Israel fürchtete, das Begräbnis könnte außer Kontrolle geraten und der Tag entweder in einer Massenpanik oder einer Massenrevolte enden. Aber der Anblick der arabischen Massen löst auch andere Gedanken aus: Warum haben die palästinensischen Massen nie versucht, mit (friedlichen) Massendemonstrationen gegen die israelische Besatzung und/oder die israelischen Siedlungen zu demonstrieren?

Massendemonstrationen ?

Vor 15 Jahren haben die Bürger der DDR und die Tschechen und Slowaken die kommunistischen Regimes Osteuropas zu Fall gebracht. Die kommunistische Staatsgewalt konnte gegen die anschwellenden Demonstrationen in Leipzig, Ostberlin und Prag nicht mit Gewalt vorgehen. Der Schießbefehl wurde nicht gegeben, weil es die Machthaber einfach nicht mehr wagten, in friedliche Menschenmassen (zum Schluss auf dem Alexanderplatz in Ostberlin wohl eine Million und auf dem Wenzelsplatz in Prag 500.000) hineinschießen zu lassen (und weil Gorbatschow der Sowjetarmee Befehl gegeben hatte, in den Kasernen zu bleiben).

 

 

Die Israelis hatten für das Begräbnis den kleinen Ort Ramallah auf der Westbank abgesperrt, aber Reporter vor Ort berichteten, dass sich zahlreiche Menschen aus dem umliegenden Westjordanland auf den Weg gemacht hatten und die israelischen Checkpoints und sogar den Sperrzaun umgangen oder überwunden hatten.

Warum ist das nicht für friedliche Großdemonstrationen möglich? Der israelische Friedensaktivist Uri Avneri hat vor ein paar Monaten den Sohn von Mahatma Ghandi in die Jerusalemer Vorstadt Abu Dis eingeladen, um ihn dort über gewaltfreien Widerstand sprechen zu lassen. Es versammelte sich nur eine kleine Gruppe. Wenn man Palästinensern gegenüber die Möglichkeit gewaltlosen Widerstands erwähnt, so kontern sie mit den Vorfällen, vor allem im Gazastreifen, wo die israelische Armee das Feuer auf Demonstranten eröffnet hat. Aber das ist nicht wirklich zu vergleichen.

Arafat hat zuletzt wieder den Terror der palästinensischen Radikalen geduldet und indirekt wohl auch unterstützt. Doch die Terrorwaffe setzt die Palästinenser wieder ins Unrecht und kann vielleicht eine dünne Schicht von Kolonialherrschern wie im britischen Empire in den Fünfzigerjahren zur Aufgabe und zum Abzug bewegen, aber nicht ein ganzes Volk wie die Israelis. Wir haben an diesem Tag die palästinensischen Massen gesehen. Arafat, trotz seiner Verliebtheit in die Rolle des Volkshelden eigentlich ein Hinterzimmertaktiker und sicher kein Demokrat, hat aus ihnen keine wirkliche politische Macht formen können oder wollen.

(DER STANDARD, Printausgabe 13./14.11.2004)

 

 

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Deutsch
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Veröffentlicht am
14.11.2004
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