Der Versuch des Zionismus in Palästina Heimatlosigkeit zu beenden, schuf mit den Palästinensern neue
Was haben wir damit zu tun?
Der Zionismus wollte "das jüdische Problem lösen".
Er ist zu einem Teil dieses Problems geworden.
Der Versuch, eigene Heimatlosigkeit zu beenden, schuf neue Heimatlosigkeit. Der Traum als Alptraum: Israel heute.
Von John Bunzl
Der Traum "Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" entpuppte sich als Alptraum. Denn Palästina war nie ein Land ohne Volk. Erst die europäische Katastrophe des jüdischen Volkes gab den Ausschlag: "Displaced persons displaced persons".
Von Anfang an ergab sich die Schwierigkeit der Rationalisierung, der Rechtfertigung nach innen und nach außen; denn schon 1921 wußte Zeev Jabotinsky (der Ahnherr von Scharons Likud): "Ich kenne kein Beispiel in der Geschichte, wo ein Land mit der höflichen Zustimmung der einheimischen Bevölkerung kolonisiert wurde." Obwohl den Führern der zionistischen Bewegung (einschließlich Ben Gurion) die Gründe für den Widerstand der palästinensischen Araber durchaus verständlich und nachvollziehbar waren, mußten Erklärungen angeboten werden, die den Widerstand nicht als Folge, sondern als Ursache des Konflikts konstruierten.
Dieses Deutungsmuster war schon lange vor der PLO, vor Arafat und vor den Selbstmordanschlägen verinnerlicht worden. Es hatte wenig mit der Realität, viel mehr jedoch mit dem Aufwand an Suggestion nach innen und nach außen zu tun. Denn die eigentliche "Schuld" der Palästinenser bestand in ihrer Anwesenheit auf einem Boden, der für das Projekt der zionistischen Landnahme vorgesehen war. -
Daher laufen übrigens auch alle Vergleiche ins Leere, welche den Zionisten "Rassismus" oder den Palästinensern "Antisemitismus" unterstellen. Zionisten kämpfen nicht gegen Palästinenser, weil diese Araber sind - und Palästinenser kämpfen nicht gegen Zionisten, weil diese Juden sind. Diese Vermischungen sind nachträglich hinzugekommen, als Folge und Rationalisierung von Feindschaft. So können wir den in Israel heute hegemonialen Bewußtseinsstand als Kom- bination von folgenden Elementen auffassen.
Erstens: Der ursprüngliche zionistische Mythos, der Palästina, aus welchen Gründen auch immer ("historisch" oder "biblisch" oder "religiös" et cetera), für sich in Anspruch nimmt und diesen Anspruch gegen die zufällig dort anwesenden "natives" durchsetzt.
Zweitens: Das Trauma des Holocaust, das einerseits die Sicht des jüdischen Staates als unbedingt zu verteidigende - potentielle - Zufluchtsstätte begründet, andererseits eine Tendenz fördert, Feindschaft und Gefahren in den Kategorien der Nazi-Katastrophe zu phantasieren und darauf entsprechend - also unproportional - zu reagieren.
Drittens: Die koloniale Erfahrung. Von der Ansiedlung über die Staatsgründung (1948) und die vielen Kriege beziehungsweise Aufstände empfindet sich das zionistische Unternehmen als Erfolgsstory. Die Praxis einer kontinuierlichen (kolonialen) Auseinandersetzung mit der arabischen Realität innerhalb und außerhalb des Landes ist wohl als der stärkste bewußtseinsformende Faktor anzusehen, zumindest was den Konflikt betrifft.
Ich glaube, daß in Israel eine grundlegende kognitive Dissonanz zwischen Absichten und Folgen besteht. Natürlich war die Herzlsche Idee eines Judenstaates (1896) nachvollziehbar und legitim; natürlich lag am Beginn des Dramas der Antisemitismus, das heißt die Unfähigkeit europäischer Gesellschaften, ihren jüdischen Minderheiten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen; natürlich sollte man dem jüdischen Volk, nach all den Tragödien, nicht das Recht auf einen eigenen Staat absprechen. Aber: Muß man nicht auch über die Auswirkungen der Umsetzung dieses Rechts nachdenken? Kann man dann ein Selbstbild als Opfer aufrechterhalten?
Genau an diesem Punkt setzen die neuen israelischen Historiker an.
Es ist wohl kein Zufall, daß ein Umdenken israelischer Intellektueller und eine gewisse Polarisierung der Gesellschaft mit Scharons Libanon-Krieg 1982 einsetzt und sich während der ersten Intifada (ab 1987) vertieft. Die Realität begann die offizielle Propaganda zu widerlegen, zumindest soweit diese Realität relativ ungefiltert ins Bewußtsein eindringen konnte. Erst diese Kriege und Aufstände rückten überhaupt die palästinensische Dimension des Konflikts in den Vordergrund. Davor herrschte Leugnung und Verdrängung.
Anzumerken ist ferner, daß es dazu auch eine Vorgeschichte gibt: Ein Zitat (für den inneren Gebrauch) von Ben Gurion zum Beispiel aus dem Jahre 1936 (angesichts der - eigentlich ersten - "Intifada" gegen die britische Mandatsmacht und die Zionisten) hätte genausogut von Ariel Scharon 2002 stammen können: "Nur nach der totalen Verzweiflung der Araber, einer Verzweiflung, die nicht nur aus dem Scheitern der Unruhen und des versuchten Aufstands, sondern auch als Folge unse-res Wachstums im Lande entstehen wird, können sich die Araber schließlich mit einem jüdischen Erez Israel abfinden."
Ähnliches gilt für die wiederholte selbstgerechte Behauptung, Zionisten und Israel hätten niemals Gewalt und Terror gegen arabische Zivilisten angewandt. Diese Behauptung konnte nicht nur durch Hinweise auf die klassischen Terroranschläge rechtszionistischer Verbände (Irgun, Lechi) in der vorstaatlichen Periode, sondern auch durch Studien über die Entstehung des palästinensischen Flüchtlingsdramas (1948) eindeutig entkräftet werden. Waren vielleicht auch die nahezu 20.000 Toten von Scharons Libanonkrieg (1982) "Terroristen"?
Das hinderte die offizielle Propaganda jedoch keineswegs, mit ihrer Litanei fortzufahren, die man im Englischen "blaming the victims" nennt. Um das Gewissen zu beruhigen, die eigene Verantwortung zu leugnen oder vergangene Traumata am falschen Ort und am falschen Objekt rückgängig zu machen, werden Palästinenser sogar in der Rolle von Nazitätern imaginiert. Das berühmteste Beispiel stammt von Menachem Begin aus dem Jahre 1982; als Scharons Truppen Beirut eingekesselt hatten, schrieb er an US-Präsident Reagan, er, Begin, freue sich, an der Spit-ze israelischer Truppen vor Berlin (!) zu stehen, wo sich "Hitler und seine Komplizen in ihren Bunkern" versteckten. Gemeint waren Arafat und die PLO.
Ähnliches durchzieht auch die heutige Sprache: Wiederholt Scharon das Szenario von 1948, 1982 oder gar von 1945? Läuft in Israel eigentlich rational nachvollziehbare Politik oder ein Alptraum ab?
Natürlich findet der Nahostkonflikt nicht in einem regionalen und internationalen Vakuum statt. Während die Konfrontation zwischen Israel und den Palästinensern trotz Oslo (1993) und Camp David (2000) ihren Charakter leider nicht grundlegend verändert hat, eröffnete der 11. September aus der Sicht Scharons die Möglichkeit, US-Unterstützung für ein radikales Vorgehen gegen Arafat und die Palästinensische Nationalbehörde (PNA) zu erhalten, falls es gelingen würde, in den Augen der Bush-Administration Arafat mit Bin Laden und die PNA mit den Taliban zu identifizieren. Die Terror-Obsession nach den Verbrechen von New York und Washington schien vielversprechend. Der gesamte Propagandaaufwand lief nun darauf hinaus, die Gewalt in Palästina zu dekontextualisieren und die Verantwortung dafür zu externalisieren. So konnte Arafat zum "Feind des Westens" hochstilisiert werden.
Der Wandel im israelischen Bewußtsein kann durch die verschiedenen Reaktionen auf die Ermordung von Meir Kahane und Rechawam Seewi illustriert werden. Kahane hatte die offen rassistische Kach-Partei gegründet und die Vertreibung der Araber gefordert. Seine Partei wurde nicht zu den Knesset-Wahlen zugelassen. Als er 1990 in New York von einem Ägypter ermordet wurde, gab es sogar ein gewisses Verständnis für den Täter.
Als Tourismusminister Rechawam Seewi im Oktober 2001 einem Attentat von Angehörigen der FPLP, der Volksfront für die Befreiung Palästinas (deren Führer kurz davor - im August - mit gezielten Schüssen aus israelischen Hubschraubern ermordet worden waren), zum Opfer fiel, wurde er fast zum Heiligen erklärt, obwohl er ähnliche Ansichten wie Kahane vertrat; was natürlich die Tat nicht rechtfertigt. Tony Judt schrieb dazu (in der "New York Review of Books" vom 17. Jänner 2002): "Seewi war nach eigener Angabe ein enthusiastischer Vollstrecker ethnischer Säuberung und Fan eines rassisch ,reinen' Groß-Israel. Wäre er als Serbe oder Hutu geboren worden, wir in Amerika würden besser verstehen, warum er so viel Haß auf sich zog. Seine Anwesenheit in der Regierung Israels sagt viel über die Zustände dort aus."
Ich möchte die islamistisch oder anders motivierten Selbstmordanschläge keinesfalls bagatellisieren. Es handelt sich um ver-abscheuungswürdige Verbrechen. Ich möchte nur davor warnen, sie als Ursache beziehungsweise Rechtfertigung israelischer Politik gelten zu lassen. Die mutigen israelischen Offiziere und Soldaten, die sich weigern, in den besetzten Gebieten zu dienen, haben die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung wohl besser verstanden, wenn sie erklä-ren: "Wir werden nicht weiter jenseits der Grenzen von 1967 kämpfen, um ein ganzes Volk zu beherrschen, zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen . . ."
Um aus der Zwangsjacke von Kolonisation, Traumata und Rechtfertigung auszubrechen, wäre eine grundlegende Überprüfung der Narrative angebracht. In der Präambel zum Oslo-Vertrag (1993) war von gegenseitiger "Anerkennung" zwischen Israel und der PLO die Rede. War das ernst gemeint?
Der Einfluß des palästinensischen Extremismus wird durch das Ausmaß an Elend, Verzweiflung und Aussichtslosigkeit bestimmt -ist also eine Folge von Politik.
Führte es zu einer Entdämonisierung des "anderen"? Erhielt das Narrativ des "anderen" eine gewisse Legitimation? Drangen die Traumata des "anderen" auch ins eigene Bewußtsein? Es wäre übertrieben, das zu behaupten. Anerkennung würde bedeuten: anzuerkennen, daß durch die Entstehung und Politik des Staates Israel dem palästinensischen Volk großes Leid zugefügt wurde. Es müßte eine gewisse Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung dafür bestehen. Davon ist nichts zu bemerken. Statt dessen wird gebetsmühlenartig vom "Terror" - der anderen - geredet.
Die Frage der Anerkennung Israels durch die Palästinenser ist schwieriger. Hier geht es nicht nur um Faktizität, sondern auch um Legitimität. Kann man von den Palästinensern verlangen, daß sie ihre eigene Enteignung, Vertreibung und Unterdrückung rechtfertigen? Wohl kaum. Erst wenn auch das palästinensische Narrativ ernst genommen wird, kann man argumentieren, daß ein neues israelisches Kollektiv zwar auf Kosten der Einheimischen entstanden ist, nun aber einmal als Faktum existiert. Palästina ist ein Zwei-Völker-Land geworden, das politisch jedoch von der israelischen Ethnokratie beherrscht wird. Zum Verständnis dieses Prozesses ist eine gewisse Anerkennung des jüdischen Narrativs durch die Palästinenser erforderlich. Denn der ganze Vorgang wäre ohne das Trauma des Holocaust nicht vorstellbar gewesen. Daher sind alle Versuche, den Gegner dadurch zu entlegitimieren, daß die Shoah trivialisiert, verharmlost oder geleugnet wird, zum Scheitern verurteilt. Darauf hat kein Geringerer als Edward Said mehrmals hingewiesen.
Die Palästinenser sind für die Judenverfolgung in Europa zwar nicht verantwortlich, sie müssen sich aber mit deren Folgen auseinandersetzen. - Antisemitismus und Judenfeindschaft waren in der islamischen und arabischen Welt eigentlich eine historisch marginale und irrelevante Erscheinung. Nicht weil die Araber "auch" Semiten, sondern weil sie in aller Regel keine Christen sind. Nicht nur durch den Konflikt um Palästina, aber besonders dadurch entstand eine neue islamische Judenfeindschaft, die sich aus Versatzstücken des europäisch-christlichen Antisemitismus und aus maßlos übertriebenen Koran-Stellen speist. Dieser neue Antisemitismus ist nicht die Ursache, aber eine gefährliche Folge des Nahostkonflikts. Er hat auch die Tendenz, sich mit antiamerikanischen Einstellungen zu vermischen.
In Palästina selbst entwickelten sich militante islamistische Organisationen erst im Zuge der ersten Intifada, also ab 1987, als Konkurrenz zu den eher säkularen nationalistischen Strömungen (Fatah, Volksfront et cetera). Während die PLO-Führung unter Arafat seit Mitte der siebziger Jahre - aus welchen Gründen auch immer - auf einen "historischen Kompromiß" mit Israel ("Zwei-Staaten-Lösung") zusteuerte, formulierte Hamas, analog zu jüdischen Fundamentalisten, einen islamisch begründeten Totalanspruch auf ganz Palästina.
Dieser Unterschied kam praktisch darin zum Ausdruck, daß die nationalistischen Organisationen eher in den 1967 besetzten Gebieten (Westbank und Gaza) gegen Soldaten und Siedler operierten, während Islamisten vorzugsweise Anschläge gegen Zivilisten innerhalb des israelischen "Kernlandes" durchführten. Als Jitzchak Rabin Ende 1992 mehr als 400 Hamas-Leute in den Süd-Libanon verbannte, kamen sie mit der schiitischen Hisbollah (Partei Gottes) in Berührung.
Dies und deren erfolgreicher Kampf gegen die israelische Militärpräsenz (Abzug unter Barak 1999) inspirierten die Kämpfer in Palästina. Die an sich sunnitischen Organisationen in den besetzten Gebieten (Hamas und Jihad Islami) übernahmen auch die mit dem schiitischen Märtyrerkult verbundene Taktik der Selbstmordanschläge. Natürlich ist wiederum diese Taktik nicht einfach zufällig aufgetreten, sondern sie folgte dem Auf und Ab des politischen Prozesses und dem Grad der Bereitschaft unter den palästinensischen Massen, eine solch radikale Vorgangsweise zu akzeptieren. Die Taktik war so "erfolgreich", daß sie zuletzt auch von säkularen Organisationen (ebenfalls innerhalb Israels) angewandt wurde, allerdings ohne die religiösen Heilsversprechen. Es wurde "nur" argumentiert, daß israelische Städte so lange nicht in Frieden leben sollten, wie die Palästinenser unter dem Terror der Okkupation litten.
Ja, es gibt einen Sektor der palästinensischen Gesellschaft, der unter keinen Umständen zu einer politischen Lösung mit Israel bereit wäre. Aber sein Einfluß wird durch das Ausmaß an Elend, Verzweiflung und Aussichtslosigkeit bestimmt - ist also eine Folge von Politik.
Es besteht kein Zweifel am Empörenden der Fakten. Trotzdem darf man nicht bei der Empörung verharren und diese emotionell ausschlachten. Die Erforschung von Ursachen und Zusammenhängen wird bald zu dem unerfreulichen Ergebnis kommen, daß die Kette von Gewalt, die auch hierzulande mit Antisemitismus und Judenverfolgung begonnen hat, noch nicht zu Ende ist. Die Palästinenser sind sekundäre Opfer dieser Gewalt. Für Österreicher ist es daher ziemlich problematisch, sich als moralische Instanz gegenüber Israel aufzuspielen. Israel liegt an einer sehr sensiblen Stelle des österreichischen und des internationalen Bewußtseins. Es gilt nolens volens als Repräsentant des jüdischen Kollektivs. Daher die Tendenz, die belastete Beziehung zu den Juden in diesen Konflikt hineinzuprojizieren. So registriert man häufig eine klammheimliche Freude, mit der israelische Untaten hier begrüßt werden. Diese sollen offensichtlich die eigenen Vorfahren entlasten und ihre Verbrechen gegen die Juden, wenn nicht rechtfertigen, so wenigstens aufrechnen oder "erklären". Eine solche "Analyse" hätte nicht viel mit dem Nahen Osten, alles jedoch mit der eigenen Vergangenheit zu tun; von einer Solidarität mit Israelis und Palästinensern ganz zu schweigen.
Quelle:
Spectrum - Wochenendbeilage der Tageszeitung "Die Presse" 13.04.2002